Bei einem Blick auf unterschiedliche Wachstumskurven lässt sich feststellen, dass mit dem Erkennen von exponentiellen Abläufen sich die Aufmerksamkeit für diese Phänomene steigert. Es wird einem aktuellen Beobachter nicht ganz klar sein, ob dies eher mit seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit oder doch mit den tatsächlichen Entwicklungen zu tun hat. In den meisten Fällen wird wohl beides zutreffen.
Wem die Entwicklung der Welt, der aktuelle Ressourcenverbrauch, die Klimadebatte, der Umgang mit Hunger und Krankheiten, die Diskussionen um Nachhaltigkeit und die Zukunft der Menschheit am Herzen liegt, ist wohl oder übel mit der Thematik der Exponentialität befasst. Die Covid-19-Pandemie hat dazu beigetragen, dass der Begriff der Exponentialität in der Medienlandschaft und damit in breiten Bevölkerungsschichten angekommen ist.
Die Darstellung in Bezug auf die Ausbreitung des Virus ist dazu angetan, eine derartige Entwicklung als Schreckensszenario zu betrachten. Auch die aktuell beobachtbare Steigerung von CO2 Emissionen – auch wenn diese durch die wirtschaftlichen und touristischen Einschränkungen während der Pandemie ein wenig zurückgegangen sein mag – und die damit einhergehende Erwärmung des gesamten Globus sind Folgen mehrerer parallel verlaufender Dynamiken, die scheinbar einem Höhepunkt zustreben.
Mit dem historischen Rückblick erkennt man viele Aspekte deren Verlaufskurven sich in einer Art und Weise steigern, die vermuten lässt, dass diese Kurven einander gegenseitig befördern. Egal ob positiv, mit Blick auf Entwicklung von Wirtschaft und Wohlstand, oder negativ, mit Bezug auf globale Erwärmung, interpretiert. Sich darüber Gedanken zu machen ist durchaus kein neues Phänomen. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert war zum Beispiel Holz ein durchaus knapper Rohstoff, dessen nachhaltiger Anbau Thema war. So hatte der sächsische Oberbergmann Hans Carl von Carlowitz bereits im Jahre 1713 eine Schrift über Baum-Zucht veröffentlicht, in der er nachhaltigen Umgang mit der Holzversorgung forderte. (Proholz, 2020)
In dieselbe Kerbe schlägt eine indianische Weisheit, die gerne bei Seminaren erwähnt wird „Kein Frosch trinkt den Teich aus, in dem er lebt“ – wohl ein Hinweis darauf, dass die Spezies Mensch auf nachhaltigen Verbrauch von Ressourcen zu wenig Wert legt. Das Phänomen dieser exponentiellen Entwicklungen bleibt so lange ohne Konsequenz für menschliche Lebensgestaltung, so lange die Auswirkungen nicht innerhalb weniger Generationen gravierende Neuerungen bewirken.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Lebensumstände, Berufe, gesellschaftliche Strukturen sich nur sehr langsam veränderten und damit kultureller Wandel viel Zeit in Anspruch nahm. Manches hatte über Generationen Bestand. Bedingt vor allem durch die Eigenschaft von Menschen, solche Umwälzungen abzulehnen oder verhindern zu wollen. Der rasante Fortschritt von Technologien und damit der Umbruch in der Bereichen Wirtschaft, Landwirtschaft und Industrie, bei gleichzeitiger vermehrter Akzeptanz durch die Gesellschaft, beschleunigt die Neugestaltung der Lebenswelten. (Levi-Strauss, 1975)
Die aktuell beobachtbare Beschleunigung machte es erforderlich, sich innerhalb einer Lebensspanne mehrmals an neue Verhältnisse anzupassen. Dies spiegelt sich in der Formulierung der Notwendigkeit des lebenslangen Lernens. Ein Begriff, der 1962 im Rahmen einer UNESCO Konferenz in Hamburg erstmals formuliert wurde (Hausmann, 1972, S 17). Im Jahr 1996 hat die OECD eine Rahmenstruktur formuliert, die helfen soll, den Begriff und die Umsetzung der Ideen bezogen auf lebenslanges Lernen einheitlich gestalten zu können. (OECD, 1996)
Mit der Entwicklung von Informationstechnologie, Computern, Netzwerken, Internet, der fortschreitenden Digitalisierung und dem vermehrten Einsatz von KI / AI in fast sämtlichen Lebensbereichen wird die Notwendigkeit der Anpassung an neu entstandene Arbeits- und Lebenswelten immens beschleunigt. So sehr beschleunigt, dass diese beiden Welten innerhalb einer Lebensspanne mehrmals neu zu organisieren sind. Dies, sowie das Unvermögen der Mehrheit, zukünftige Trends zu antizipieren – wie wir dies von exponentiellen Abläufen kennen – verursachen Verunsicherung innerhalb der Gesellschaft und verstärken konservative Tendenzen. Konservativ nicht im dreifachen Hegelschen Sinn – des Aufhebens, als Bewahren, des Aufhebens als Negieren und des Aufhebens als Heben auf eine nächste Stufe – sondern ausschließlich mit dem Blick auf das Bewahren der bis dato bekannten Situation. Diese kennt man bereits, hat gelernt, damit umzugehen und braucht daher keine Anstrengung in Richtung Adaption zu unternehmen. Da dies mit Blick auf technologische und digitale Tendenzen nicht möglich ist, beginnt sich die politische Kultur wieder auf national argumentierte und regional beschränkte Ideen zu stützen. Aus der systemischen Argumentation her nachvollziehbar, nämlich die Reduktion der Komplexität auf kleinere Einheiten. Die Wirkungsräume der auftretenden Tendenzen sind zu groß geworden, lassen sich daher nicht mehr überblicken. Dabei vernachlässigt wird oft die Notwendigkeit von Kooperation und der dazu erforderlichen Kommunikation im Sinne einer nachhaltigen Lösung.