Überbordende Komplexität, exponentielle Phänomene, zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit, Verschiebung von Machtverhältnissen von Staaten zu Unternehmen, nationalistische und protektionistische Tendenzen, Sanktionen gegen Andersdenkende, erratisch und reaktionär auftretende Staatenlenker . . . es wird Zeit, einen Weg zu beschreiten, den bereits Aristoteles als den Weg menschlicher Tugenden in seiner Nicomachischen Ethik beschrieben hat – Mesotes, das Maß der Mitte.

Die Bestimmung der Mitte wird einerseits mathematisch ermittelt und als numerisch definiertes Gleichgewicht zwischen Überschuss und Mangel angesehen. Das Beispiel ergibt 6 als Ergebnis zwischen 10 und 2. Aristoteles stellt jedoch fest, dass diese mathematisch darstellbare Mitte möglicherweise nicht für jeden Menschen gilt. Daher kann dieses Prinzip nicht rechnerisch auf Einzelpersonen angewendet werden. Der Wert, der für einen der richtige für die Mitte sein könnte, kann für einen anderen zu viel oder zu wenig sein. (Aristoteles, 1975, II 1106a29 – 1106b5)

Diese Darstellungen haben zu mehrdeutigen Interpretationen geführt. Die mathematische Definition des Guten stellt sich nämlich als unzulässig dar und kann von niemandem als qualitativ bewertbare Unterscheidung wahrgenommen werden. Daher wird das Prinzip von Mesotes ein zwar mächtiges, aber dunkles und leeres Konzept genannt. (Höffe, 2006, S 225) Während man sich mit dem Maß der Mitte zwischen Übermaß und Mangel befasst, könnte man diese Mitte auch als eine Art Mittelmäßigkeit betrachten. Doch niemand würde annehmen, dass Aristoteles Mittelmäßigkeit gemeint hat, um den Weg zur Eudaimonia – zu einem guten Leben – zu finden. Die Behauptungen des Aristoteles verlangen eine ausführliche Diskussion, da eine allgemeine Präsentation die Schlüsselaspekte nicht erfüllen könnte. Daher verweist er bei der Beschreibung und Analyse einzelner Beispiele auf viele Unterschiede, um die Idee von Mesotes zu erklären. (Schilling, 1930, S 3)

Diese Menge an Beschreibungen der Tugend als Mitte bestätigt die Annahme, dass dieses Prinzip überall gelten soll. (Aristoteles, 1975, IV 1127a15) Aretê – Tugend – für alles Sein ist das Wesen der Verwirklichung und Vollendung. (Schilling, 1930, S 7) Diese Betrachtungen lassen vermuten, dass Mesotes einerseits die Mitte entgegengesetzter Positionen ist, andererseits eine Art optimales Ergebnis bestimmt durch gegensätzliche Betrachtungen. Um das geeignete Maß für einen bestimmten Fall zu definieren, ist jede einzelne Situation nach einem bestimmten Prinzip zu analysieren. Sowohl das Prinzip als auch das Maß können als Mesotes bezeichnet werden. Dies erinnert an die Debatte zum Thema Umgang mit Komplexität und Selbstorganisation.

Die erforderliche qualitative Bewertung der Tugenden erfordert einen Beobachter, der aus rein mathematischer Sicht ausgeschlossen ist. Aristoteles stellt fest, dass Übermaß und Mangel das beabsichtigte Werk zerstören, das Maß der Mitte es jedoch bewahrt. (Aristoteles, 1975, II 1106b10f) Die Integration des Handelns in tugendhaftes Verhalten erfordert eine Beschreibung des Fortschritts innerhalb eines zeitabhängigen Rahmens. Innerhalb dieses zeitabhängigen Prozesses beeinflussen einander Überschuss und Mangel komplementär und streben somit eine stabile Mitte an. Eine mathematische Darstellung der in Abhängigkeit von der Zeit auftretenden Prozesse könnte als Vibration oder Oszillation gesehen werden, die sich von verschiedenen Seiten wiederholt dem beobachterabhängigen Mittelpunkt nähert. Es ist noch kein allgemeiner qualitativer Ausdruck möglich, sodass die Schätzung des Erreichens der Mitte – des Mittelwegs – mittels einer reflektierenden Selbstbeobachtung dem Beobachter überlassen bleibt.

Nur die Beobachtung einer Gruppe von Personen würde die Berechnung eines statistischen Durchschnitts ermöglichen, was zu einem Umschlag von Qualität zu Quantität führen würde. Quantität kann mathematisch dargestellt werden – nie Qualität. Der Beobachter benötigt eine erhöhte Anzahl von Elementen für eine Abstraktion des Mittelwegs, deren Beziehungen zu einer Aussage führen, die als gültig und objektiv bezeichnet wird. Es ist davon auszugehen, dass der Beobachter einerseits die Fähigkeit benötigt, Systeme und Elemente reduktionistisch zu analysieren, um Muster und Regeln zu finden. Andererseits braucht der Beobachter zweiter Ordnung eine reflektierte Selbstbeobachtung, um ethische Bedürfnisse erkennen zu können. Die Frage kann daher nicht sein, welche Sichtweise zu bevorzugen ist – die Herausforderung besteht in der Umsetzung scheinbar widersprüchlicher Sichtweisen unter dem Aspekt von sowohl + als auch.

Es war wohl schon zu Zeiten des Aristoteles schwer, dieses Prinzip des Mittelwegs zu finden und danach auch umzusetzen. Die Beschreibung des Prozesses zum Finden des Mittelwegs als Oszillation spiegelt sich in der Begrifflichkeit der Wellen des Lebens und dem Bedürfnis zu innerer Ausgeglichenheit und Balance zu gelangen. Dies ist für Individuen eine Herausforderung, für Gruppen von Menschen noch mehr und für eine global vernetzte Gemeinschaft erst recht.