Die Schlussfolgerung:
Die erforderliche qualitative Bewertung der Tugenden erfordert einen Beobachter, der aus rein mathematischer Sicht ausgeschlossen ist.

Aristoteles stellt fest, dass Übermaß und Mangel das beabsichtigte Werk zerstören, die Mittelmäßigkeit es jedoch bewahrt. [Aristoteles, 1975, II 1106b10f] Die Integration des Handelns in tugendhaftes Verhalten erfordert eine Beschreibung des Fortschritts innerhalb eines zeitabhängigen Rahmens. Innerhalb dieses zeitabhängigen Prozesses beeinflussen sich Überschuss und Mangel komplementär und streben somit eine stabile Mitte an. Eine mathematische Darstellung der in Abhängigkeit von der Zeit auftretenden Prozesse könnte als Vibration oder Oszillation dargestellt werden, die sich von verschiedenen Seiten wiederholt dem beobachterabhängigen Mittelpunkt nähert. Es ist noch kein allgemeiner qualitativer Ausdruck möglich, so dass die Schätzung des Erreichens der Mitte – des Mittelwegs – mittels einer reflektierenden Selbstbeobachtung (des Beobachters zweiter Ordnung) dem Beobachter überlassen bleibt. Nur eine Beobachtung einer Gruppe von Personen würde die Berechnung eines statistischen Durchschnitts ermöglichen, was zu einem Umbruch von Qualität zu Quantität führen würde. Quantität kann mathematisch dargestellt werden – nie Qualität. Der Beobachter benötigt eine erhöhte Anzahl von Elementen für eine Abstraktion des Mittelweges, deren Beziehungen zu einer Aussage führen, die als gültig und objektiv bezeichnet wird.

Es ist davon auszugehen, dass der Beobachter einerseits die Fähigkeit benötigt, Systeme und Elemente reduktionistisch zu analysieren, um Muster und Regeln zu finden. Andererseits braucht der Beobachter zweiter Ordnung eine reflektierte Selbstbeobachtung, um ethische Bedürfnisse erkennen zu können. Die Frage kann daher nicht sein, welche Sichtweise zu bevorzugen ist – die Herausforderung besteht in der Umsetzung scheinbar widersprüchlicher Sichtweisen unter dem Aspekt von

sowohl als auch

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erstmals veröffentlicht im Jahr 2015 in englischer Sprache
THE SECOND ORDER OBSERVER AND ARISTOTLE’S MESOTES. A contemporary interpretation of Aristotle’s mesotes
https://cyberleninka.ru/article/n/the-second-order-observer-and-aristotle-s-mesotes-a-contemporary-interpretation-of-aristotle-s-mesotes

Literatur der Kategorie Komplexität & Emergenz

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