Heute, am 4.5.2020, rauscht es im Blätterwald – sinnbildlich – zumindest online. Die Leiterin der Denkfabrik “Think Austria” im österreichischen Bundeskanzleramt, Koordinatorin des “Future Operations Clearing Board” und damit maßgebliche Beraterin unseres Bundeskanzlers Sebastian Kurz, hat der Financial Times ein Interview gegeben. Darin hat sie die Demokratie, wie wir sie kennen, nach Ansicht vieler Kommentare in Frage gestellt. Dies mit der Argumentation von Gesundheit und Sicherheit für die Gesellschaft in der aktuellen Pandemie. Zusätzlich mit dem Hinweis darauf, dass sich ganz Europa wohl daran gewöhnen wird müssen, technische Werkzeuge einzusetzen, die “am Rand des demokratischen Modells” anzusiedeln seien. (Update vom 5.5. – angeblich wurden die Worte der Frau Doktor flasch wiedergegeben – was allerdings nichts an der Intention der ausgeführten Gedanken ändert.)

Ohne die Qualifikation der Frau Dr. Mei-Pochtler in Frage stellen zu wollen was ihre Kompetenz, technische und ethische Fragen im gesellschaftlichen Zusammenhängen einschätzen zu können, anbelangt, sei hier doch die Frage erlaubt, wie man als langjährige betriebswirtschaftlich ausgebildete Partnerin der Boston Consulting Group zu solch einer Einschätzung kommen kann. Die Beantwortung dieser Frage soll hier jedoch gar nicht versucht werden.

Das Problem in der aktuellen Situation scheint doch zu sein, dass die Regierenden die Bevölkerung mit Angst anleiten wollen, den Verordnungen und Erlässen zur Eindämmung der Pandemie Folge zu leisten. So etwas wie Eigenverantwortung traut man dem Großteil der Menschen offensichtlich nicht zu. Gleichzeitig werden im Zeitalter der Digitalisierung vorhandene technische Gimmicks in scheinbar unzuverlässige technische Werkzeuge umfunktioniert und als einfachste Lösung angepriesen. Technik, die durch die Vielfalt der Geräte und die unterschiedlichste Handhabung der einzelnen NutzerInnen nicht 100%ig funktionieren kann (!!!), wird zum Damoklesschwert für die Demokratie und die Gesellschaft, wie wir sie kennen.

Warum dies? – Blickt man in die Geschichte zurück, so waren technische Lösungen seit je her die Möglichkeit, die eigenen, allzu menschlichen Unzulänglichkeiten zu überwinden. Wer kennt nicht die Sage vom griechischen Techniker und Baumeister Daedalos, der mit seinem Sohn Ikarus von der Insel Kreta mit Hilfe künstlicher Flügel floh – und dabei seinen Sohn verlor. Eine Sage, die uns klar macht, dass Technik manches ermöglicht, dass der Einsatz von Technik aber auch Folgen mit sich bringt, die nicht gewünscht sein können. Der Einsatz von Technik hat also immer schon auch die Notwendigkeit von Überlegungen gefordert, Einschätzungen möglicher Folgen für einzelne Menschen, für die Gesellschaft oder auch für die Natur in Betracht zu ziehen. Diese Technikfolgenabschätzung geht gleichzeitig mit einer Risikobewertung einher, die nicht nur gesellschaftlich bedingte sondern durchaus auch betriebs- und/oder volkswirtschaftliche Risiken ins Kalkül ziehen kann.

Nicht zu vernachlässigen sind bei einer derartigen Risikobewertung Aspekte der ethischen Vertretbarkeit von Auswirkungen technischer Anwendungen. Es ist schon klar, dass Einschätzungen zukünftiger Ereignisse und deren Folgen eben Einschätzungen bleiben und mit Wahrscheinlichkeiten zu operieren haben. Wer hat noch nicht von Begriffen wie “Best Case” oder “Worst Case” Szenarien gehört? Selten tritt wohl das Beste oder das Schlimmste wirklich ein. Was wohl auch der Spruch aussagen soll:

“Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt”

diese Redensart soll von Wilhelm Busch stammen

Aus ethischer Sicht wäre es aber unhaltbar, würde der “Worst Case” eintreten, denn dieser Fall würde Menschen in einem Ausmaß schaden, das nicht argumentierbar wäre und damit nicht vertreten werden könnte. Mit zunehmender Technisierung unserer Welt und damit auch der Digitalisierung unseres Alltags werden wir mit diesen Fragestellungen intensiver konfrontiert als dies der Philosoph Hans Jonas ahnen konnte. In seinem Werk “Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation” formuliert er folgenden ethischen Imperativ:

“Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.”

Hans Jonas, Frankfurt/M. 1979. Neuauflage als Suhrkamp Taschenbuch, 1984

Bezugnehmend auf die angesprochene Technikfolgenabschätzung und die dazugehörige Risikobewertung fordert Jonas die Orientierung der ethischen Prinzipien an einem möglichen “Worst Case” Szenario. Sowohl die Beeinträchtiung der Natur in Fragen der Klimakrise als auch die zu erwartenden Entwicklungen in Gesellschaft und Politik würden gerade jetzt angesichts dieser Pandemie – und an die vier Jahrzehnte nach der Formulierung dieses Imperativs – mehr Aufmerksamkeit von den handelnden Personen verdienen.

Eigenverantwortung gemeinsam mit Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Natur wären vermutlich die bessere Problemlösungen sld technische Werkzeuge – es wäre dabei allerdings nicht möglich, die Verantwortung (= Schuld) anderen in die Schuhe zu schieben (dies soll ja, hört man, bei manchen üblich sein :-))

hier noch Links zum Rauschen im Blätterwald:

https://www.diepresse.com/5808981/kurz-beraterin-jeder-wird-eine-app-haben
https://kurier.at/politik/inland/kurz-beraterin-zu-contact-tracing-app-wird-teil-der-neuen-normalitaet/400831661
https://www.derstandard.at/story/2000117266318/kurz-beraterin-pocht-auf-corona-app-fuer-alle
https://www.krone.at/2148014
https://www.heute.at/s/kurz-beraterin-jeder-wird-eine-corona-app-haben–48336399
https://www.ft.com/content/87495a18-f7a1-4657-a517-ba2b16c146dc