Am 17.5. 2020 erschien in der – doch eher konservativen – Tageszeitung “Die Presse” ein Interview mit unserem aktuellen Finanzminister, der im Zusammenhang mit der Frage nach seiner konservativen Position mit einem Hinweis auf Hegels “Dialektische Aufhebung” antwortete. Alleine die Tatsache, dass ein Finanzminister ein abgeschlossenes Studium der Philosophie vorweist, kann als außergewöhnlich angesehen werden. Was allerdings nicht bedeuten muss, dass dargestellte philosophische Positionen ohne politisch motivierte Interpretation auskommen. Daher ist aus der Sicht des – möglichst neutralen – Beobachters zu der Bemerkung bezüglich Konservatismus und der angesprochenen Dialektik die folgende Passage des Interviews ins rechte (= richtige) Licht zu rücken. Seine konservative Einstellung beschrieb der Finanzminister so …
“… konservatistisch im hegelianischen Sinn. Konservatismus als dialektischer Weiterentwicklungsprozess. Das Bewahren des Bewahrenswerten. Was den Imperativ der ständigen Veränderung in sich hat.”
DiePresse.com https://www.diepresse.com/5814766/gernot-blumel-wir-sind-da-fur-die-schweigende-mehrheit 17.5. 2020 – leider kostenpflichtig
Die nicht wirklich nachvollziehbare Darstellung betrifft die Verwendung des Begriffs des “Konservatismus als dialektischer Weiterentwicklungsprozess“. Die Nutzung der Suffix -ismus weist auf eine – oft in übersteigerter Form – vorhandene Geisteshaltung hin, auf jeden Fall auf eine Tendenz in eine vielfach damit bezeichnete Ideologie. Konservatismus ist als eine Lehre zu betrachten, die davon ausgeht, dass es eine Ordnungsmacht gäbe, die über der menschlichen Vernunft stünde. Also eine Art von Ordnung natürlichen und damit göttlichen Ursprungs. Damit einher geht die Idee von gesellschaftlicher, politischer und geistiger Beständigkeit und der Aufrechterhaltung historisch gewachsener Traditionen. Damit wird der Konservatismus zu einer Einstellung, die zu der Idee der “dialektischen Aufhebung” im Sinne des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) eigentlich im groben Gegensatz steht.
Hegel spricht mit seiner “dialektischen Aufhebung” einen Prozess an, mit dessen Hilfe die immer wieder auftretenden Widersprüche überwunden werden können (und auch sollen). Die mehrfache Bedeutung des Wortes Aufhebung symbolisiert selbst die Vieldeutigkeit des beschriebenen Vorgangs:
- die Überwindung, die Beendigung eines Zustandes (Aufheben im Sinne von beenden – die Negation)
- das Bewahren von Aspekten, die sich als Wert erweisen, bewahrt zu werden (Aufheben im Sinne von aufbewahren, konservieren)
- die Integration von Neuem und Altem im Sinne einer neuen Funktionalität auf eine weitere Stufe (Aufheben im Sinne von erhöhen)
Die Prozesshaftigkeit dieses Vorgangs bringt mit sich, dass nur die Verbindung von Negation und Konservation in der Lage ist, die Aufhebung im Sinne einer Weiterentwicklung zu gewährleisten und im nächsten Schritt wieder eine Negation der (vorangegangenen) Negation diesen Entwicklungsprozess weiterführen kann. Dialektische Entwicklung stellt somit einen Widerspruch zum Begriff des Konservativismus dar, auch wenn ein Aspekt des Konservierens in dem gesamten Vorgang enthalten ist. Die Verbindung eines Imperativs der ständigen Veränderung mit dem Begriff des Konservatismus macht den Anschein einer Doppelbotschaft (double bind message), die dazu angetan ist, entweder unterschiedliche Interessensgruppen zu beruhigen, oder so etwas wie unterschwellige Verunsicherung zu befördern.
Es kann aber auch sein, dass unser Herr Finanzminister seine Einschätzung des Konservatismus zu sehr an den Schriften des Karl Freiherr von Vogelsang (1818 – 1890) ausrichtet. Dieser vertrat als katholischer Sozialreformer die Ansicht, dass konservativ zu sein bedeutet, als Retter des Volkes aufzutreten – als „conservator populi“ (nachzulesen in der Diplomarbeit Blümel, Gernot (2009) Der Personenbegriff in der Christlichen Soziallehre und -philosophie unter der besonderen Berücksichtigung von Vogelsang, Lugmayer und Messner. Seite 58)
Dieser Gedanke lässt manche erschaudern – ist es doch für viele Menschen ein Problem, den Vorstellungen und Ansprüchen von selbsternannten “Rettern des Volkes” entsprechen zu müssen. Denn die Frage nach dem Bewahrenswerten erfordert einen möglichst breiten Diskurs unterschiedlichster Positionen. Bekannterweise haben mit einem solch breiten Diskurs sowohl Konservatisten als auch Revolutionäre massivste Probleme. Die Suche nach dem Mittelweg des Aristoteles (mesothes) wäre somit angesagt, aber diese Ideen liegen für mache der politischen Akteure wohl mit ca. 2350 Jahren etwas gar weit zurück – auch wenn sich das menschliche Denken in dieser Zeitspanne wohl nicht verändert hat ;-).