Die Nichteinhaltung einer behördlich vorgeschriebenen Sperrstunde bewegt das Land. Eigenartig, welche Prioritäten die Medien setzen, egal ob mit staatlichen Mitteln geförderte oder die sogenannten Sozialen Medien. Dabei steht nicht einmal fest, ob diese Sperrstunde wirklich überschritten wurde. Offensichtlich wurden nach 23 Uhr – die wegen der Covid-19 Pandemie erlassene Sperrstunde für alle Gastronimiebetriebe – keine Getränke mehr ausgeschenkt und schon gar keine Speisen mehr serviert. Zudem wurde das Lokal auch um 23 Uhr geschlossen, nur der “Schanigarten” wurde weiter benutzt – von Gästen, die schon vorher hier gesessen waren.

Die Sache wäre wahrscheinlich nicht in den Medien aufgetaucht, wären die um 0:20 Uhr – also fast 1 1/2 Stunden nach der offiziellen Sperrstunde – angetroffenen Gäste nicht der Bundespräsident und seine Frau gewesen. Sie hätten sich verplaudert und es täte ihm leid, diesen Fehler begangen zu haben, wurde unser Bundespräsident in diversen Medien zitiert. Damit sollte der Sache eigentliche Genüge getan sein, auch wenn man sich, angesichts der Tatsache einer noch immer aktuellen Pandemie, ein schelmisches Lächeln nicht verkneifen kann. Es ist einfach menschlich, in einer Situation sozialer Aktivität zu versinken und dabei Zeit und Umstände nicht allzu wichtig zu nehmen. Zumal in dieser speziellen Situation zu keinem Zeitpunkt eine dritte Person gefährdet worden war.

Auch wenn die vorgegebenen Regeln eine andere Interpretation zulassen würden, ist die Polizei, die diese Übertretung vergangenes Wochenende festgestellt hat, gut beraten, weise mit dieser Übertretung umzugehen. Nicht weil die Polizisten bei einer Amtshandlung den Bundespräsidenten und seine Gemahlin angetroffen haben, sondern weil sie gefordert sind, den Kontext dieser Übertretung miteinzubeziehen. Wie könnte man Weisheit in solchem Zusammenhang interpretieren?

(Praktische) Weisheit bedeutet: die Regeln zu kennen und sie zu brechen, wenn es notwendig ist**

Barry Schwartz – Using our Practical Wisdom – https://www.ted.com/talks/barry_schwartz_using_our_practical_wisdom 2011

Besonders in so heiklen Zeiten, wie alle Menschen der Erde sie derzeit erleben, ist praktische Weisheit gefragt, um die Lebenssituationen, die ohnehin von Angst vor Ansteckung und Angst vor Verlust der Arbeit und damit der Existenzgrundlage beherrscht werden, nicht noch schlimmer zu machen. Wie eine strikte Einhaltung von Regeln – ohne eine Spur von praktischer Weisheit – Menschen schädigt, zeigt das folgende Beispiel:

Nach dem Wiederbeginn des Schulbetriebes sitzen in einer Volksschule in Wien Mädchen und Buben an den Tagen, die sie in der Schule verbringen, sowohl während des Unterrichts, als auch in den Pausen und während der Betreuungszeit jeweils von 7:45 Uhr bis 12 Uhr an ihrem Platz beim Tisch. Diese Kinder dürfen ihren Platz ausschließlich nur dann verlassen, wenn sie auf die Toilette müssen. Dies selbstverständlich nur nach Absprache mit der Lehrerin / dem Lehrer oder der Aufsichtsperson. Eine Tortur für alle Menschen, besonders aber für 6 – 9 jährige Kinder, deren Bewegungsdrang bekannt sein sollte. Wem so etwas einfällt, dem kann man “praktische Weisheit” durchaus absprechen. Auch während einer Pandemie, wie wir sie derzeit erleben. Da helfen auch keine Ethik-Kurse, denn die sind nicht in der Lage, Empathie und Verständnis zu vermitteln.

** das Brechen, Biegen der Regeln zum Vorteil anderer Personen, deren Lebensumstände dies erfordern, oder um eine möglicherweise gefährliche Situation zu entschärfen – das Brechen der Regeln zum eigenen Vorteil ist damit keinesfalls gemeint und ist abzulehnen!