Maßgeblich verantwortlich für die Definition von Komplexität und die damit einhergehende Reduktion derselben – in erster Linie um die getroffenen Beobachtung kommunizieren zu können – ist also die Funktion des Beobachters. Diese Beobachter sind – ohne Ausnahme – Menschen. Somit ist für eine Analyse bezüglich Komplexität, Systemen und Digitalisierung das Augenmerk auf das Verhalten von lebenden Systemen = Leben zu lenken, um Beobachtungen korrekt beschreiben und einordnen zu können. Die Beschreibung von Leben als biologisches System geht mit Begriffen einher, die als Autopoiesis und operationale Geschlossenheit in die Literatur eingegan- gen sind. (Maturana und Varela, 1987)(diese operationale Geschlossenheit ist nicht zu verwechseln mit der Tatsache, dass lebende Organismen offene Systeme in Bezug auf den Umgang mit und die Wandlung von Energie sind.)
Der Begriff der Autopoiesis besagt, dass sich Lebewesen auf Basis der ei- genen Strukturen und der inneren Organisation entwickeln. Dies bedeutet einen laufenden, selbstreferenziellen Rückgriff auf die eigenen Strukturen (somit auch auf Erfahrungen und Erlebnisse) im Umgang mit der Umwelt. Es ist dabei nicht möglich, zwischen Sein und Handeln zu unterscheiden. Eine Operation, die zwingend für die Reproduktion und die Aufrechterhaltung des Systems notwendig ist. Der Begriff der operationalen Geschlossenheit wird aus dieser Selbstreferenzialität abgeleitet und mündet in der Aussage, dass jedes lebende System auf Störungen aus der Umwelt mit eben solchen Rückgriffen auf die eigenen Strukturen antwortet. Daraus ergibt sich, dass ein lebendes System immer darauf ausgerichtet ist, sich selbst zu erhalten (Maturana und Varela, 1987, S 55ff). Dies betrifft alle Lebewesen.
Angesichts der Tatsache, dass Menschen sich seit jeher in Gruppen zusammengefunden haben, vorab um natürlichen Widrigkeiten widerstehen zu können, in späteren Zeiten um das Zusammenleben machtpolitisch und ökonomisch organisieren zu können, stellen die Verhältnisse, in denen Menschen zueinander stehen, ein ungemein komplexes Konstrukt dar. Als Adaptionsschritt zur Anpassung an die sich verändernde Umwelt haben Menschen Gruppen gebildet, gemeinsame Ziele definiert und diese versucht in organisierter Kooperation umzusetzen.
Betrachtet man so entstandene soziale Strukturen, so stellt man fest, dass innerhalb dieser Systeme ein durchaus analoges Verhalten zu einzelnen Lebewesen festzustellen ist. Im Falle einer Störung aus der Umwelt, greifen auch Gruppen von Menschen auf die Strukturen innerhalb der Gruppe zu- rück und suchen so nach möglichen Lösungen. Sowohl Einzelne als auch Gruppen kennen dabei den Status des Beobachters. Dieser wird durch ein auftretendes Ordnungsinteresse begründet, das einem Kontroll- und Lerninteresse folgt. (Luhmann, 1984, S 246)
Mit der immer größer werdenden Anzahl unterschiedlicher Formen von Organisationen entstand eine komplexe, global organisierte und teilweise global strukturierte digitale Welt. Mit dem Blick auf diese Welt erscheint es verständlich, dass sowohl Individuen als auch Gruppen einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit darauf richten, mit immer mehr und schneller auftretenden Veränderungen umzugehen – was mit dem Wunsch nach Reduktion von Komplexität einhergeht. Im Unterschied zu Lösungen, wie sie aus der Geschichte der Menschheit bekannt sind, lassen sich in globalisierten Systemen solche Ansätze heute nicht lokal, regional, sprachlich oder kulturell eingrenzen. Dies verleiht dem Ansinnen der Reduktion von Komplexität zusätzliche Schwierigkeiten.
Ein einer global organisierten, kybernetisch orientierten und mittels Daten getriebenen Welt, die mathematischen Axiomen folgt, wird der technologischen Entwicklung große Aufmerksamkeit gewidmet. Somit haben sich viele Aspekte der Digitalisierung zu strukturellen Organisationsformen der heutigen Gesellschaft über kulturelle und sprachlich bedingte Grenzen hinweg entwickelt. Gleichzeitig bleibt die autopoietisch bedingte Selbstorganisation von Menschen mit ihren kulturellen, moralischen und sprachlich bedingten Strukturen bestehen. Es tut sich damit ein Spannungsfeld zwischen auto- poietisch bedingter Eigenbeobachtung und der Einschätzung der neuerdings vorhandenen digitalen, kybernetischen und technisch dominierten Strukturen auf.