Als ein Standardwerk der Beschreibung einer Überwachungsgesellschaft kann Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ gelten. Er beschreibt darin die Mechanismen der „Disziplinierung“ und der damit einhergehenden Abläufe innerhalb der Gesellschaft. Die Auflösung feudaler Gesellschaften bringt die Entstehung moderner Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert mit sich. Diese sogenannten „Disziplinargesellschaften” sind gekennzeichnet durch ein allgemein gültiges Normen- und Wertegefüge. Menschliche Vielfältigkeiten sind in diesen Gesellschaften tolerierbar, jedoch war es Ziel, das Individuum mittels Verinnerlichung vorgeschriebener Normen zu formen. Die Einhaltung dieser Normen wurden überwacht und im Falle eines Verstoßes sanktioniert.

Wie konnten Disziplinargesellschaften entstehen?

Den Ursprung der modernen Disziplinargesellschaft im 17. Jh. sieht Foucault in der der Quarantäne als Maßnahme städtischer Behörden gegen die Verbreitung der Pest. Die Stadt wurde geschlossen und in verschiedene Territorien zur Überwachung aufgeteilt. Die Bewohner mussten sich unter Sanktionsandrohungen genau an die Anweisungen des hierarchisch organisierten Verwaltungspersonals halten, welches selbst auch wieder kontrolliert wurde. Alles lief über die Instanzen der Macht. Keine Person konnte dem System lückenloser Vorschriften des Verhaltens und lückenloser, detaillierter Registrierung aller Geschehnisse entgehen. Unbedingter Gehorsam war gefordert die einzuhaltende Ordnung schrieb alles vor. Es handelt sich hier um das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage.
Weitergedacht ist der Traum vom Pestzustand in Wirklichkeit die Wahrnehmung der gefährlichen Grenzen der Macht.

„Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den Ansteckungen der Pest”

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1977

Die Pest wurde im Gegensatz zur Lepra anders gehandhabt. Lepra ist das Modell einer anderen Zeit und erfordert damit offensichtlich andere Maßnahmen: die Ausschließumg. Erkrankte wurden gemeinsam weggesperrt – man ließ sie in der Masse verkommen – kein Differenzieren sondern Aussetzen, Stigmatisieren und Verbannen.

Der Umgang mit der Pest bietet ein Modell der in die Tiefe gehenden Organisation der Disziplinierung, Überwachung u. Kontrolle, individualisierenden Aufteilung und Verzweigung der Macht. Die Pest und der Umgang mit ihr wird somit zur Utopie der vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft. Ein Bespiel für die ideale Ausübung der Disziplinierungsmacht.

Im 19. Jahrhundert nähern diese beiden Modelle – Lepra und Pest – sich einander an: auf den Raum der Ausschließung (symbolisch: Bettler, Landstreicher, Irre, Gewalttätige, Aufständische) werden die Machttechniken der parzellierenden Disziplin angewendet. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts arbeitet die Disziplinargewalt daran, die Aussätzigen (Ausgeschlossenen) genauso wie Pestkranke (Disziplinierte) zu behandeln, zu individualisieren.

Das vollendete Modell dieser Regierungsform der Disziplinierung sieht Foucault im architektonischen Modell des Panopticons des englischen Rechtsphilosophen u. Utilitaristen Jeremy Bentham (1748-1832)

Siehe den Beitrag Das Panopticon in der Hosentasche oder doch implantiert!

Michel Foucault hat damit Techniken = Regierungsstrategien beschrieben, die durchaus mit den Ideen, Big Data zur Eindämmung der derzeitigen Pandemie zu nutzen vereinbar sind – wahrscheinlich sogar deren Grundlagen bilden. Deshalb ist es von außerordentlicher Wichtigkeit der Einführung von digitalen Überwachungswerkzeugen auch in Zeiten einer Pandemie zu widersprechen.