Das Beschreiten eines Wegs der Tugend – formuliert in der Sprache des Aristoteles – ist keine Angelegenheit individueller Perfektionierung, sondern der Weg gemeinschaftlicher Kooperation im Sinne der Erhaltung des Gleichgewichts von Gesellschaft und der Welt. Wie dies in einer weltweit vernetzten, digitalisierten Struktur möglich sein soll, ist ad hoc nicht zu bestimmen. Tendenzen, wie Netzwerktheorien, Komplexität und die sogenannte Schwarmintelligenz sie zeigen, lassen allerdings vermuten, dass nicht das Prinzip von Vernetzung infrage gestellt werden sollte, sondern deren Struktur und die damit dominante Nutzung.
Ein Blick zurück auf die Erforschung sozialer Netzwerke zeigt, dass die schwachen Verbindungen zwischen den Netzwerken – weak links – tatsächlich zu einem Mehr an Information und funktionierender Kommunikation beitragen und damit die wertvollen Verbindungen darstellen – die Forschungen von Mark Granovetter und Peter Csermely haben dies mehrfach bestätigt. Diese Konstellation erfordert allerdings, dass es viele unterschiedliche Netzwerke gibt, die über diese schwachen Verbindungen miteinander kommunizieren. Diese lokal, regional oder thematisch organisierten Netzwerke können in der Art distribuierter Netze strukturiert sein und selbst wieder als gleichberechtigte Knoten in einem übergeordneten distribuierten Netz größere Regionen abdecken. Dies hätte den Vorteil, dass mittels dieser vorgegebenen Strukturen die Entwicklung exponentieller Phänomene eingeschränkt würde. Globale Wirkungen, wie sie derzeit beobachtet werden können, würden damit gedämpft oder gar unterbunden. Dazu bedarf es neben einer geplanten Netzwerkstruktur natürlich auch Regeln, nach denen sowohl Kommunikation als auch Kooperation ablaufen sollen.
Dies bedeutet nicht, den Fortschritt der Digitalisierung zu behindern, sondern in Bahnen zu lenken, die es ermöglichen, die ökonomischen und gesellschaftlichen Errungenschaften gleichmäßiger als bisher zu verteilen. Dabei sind sowohl Politik und Wirtschaft gefordert, nicht dem gehypten Mainstream das Wort zu reden, sondern Netzwerke, Technologie und digitale Kommunikation als Teil der regionalen Infrastruktur zu bewerten und auch in diesem Sinne zu investieren.
Somit würde regionale und nationale Wertschöpfung zum Tragen kommen und damit aktuelle steuerliche Ungleichheiten ausgeglichen. Als Ersatz für die sogenannte Digitalsteuer. Ein Ansinnen, das auf Ebene der EU seit Jahren für Kopfzerbrechen sorgt und bei dem bisher keine Lösung in Sicht ist, denn eine globale Harmonisierung von Steuern bleibt ein unvorstellbares Ansinnen. Wären die maßgeblichen Unternehmen mehrheitlich regional angesiedelt, würde sich diese Problematik nicht in der derzeit beobachteten Dimension ergeben.
Nochmals zum Thema Exponentialität: mit der nach wie vor präsenten Covid-19-Pandemie ist erkennbar geworden, dass exponentielle Entwicklungen besser in den Griff zu bekommen ist, wenn man sowohl auf föderale, regionale Strukturen als auch auf überregionale Zusammenarbeit setzt. Eine Herausforderung für die aktuellen politischen Strukturen. Dies erfordert nämlich, man kann dies nicht oft genug betonen, die Bereitschaft zu wohlwollender Kommunikation als Grundlage von Kooperation. Eine Eigenschaft, die mit der Anwendung des Prinzips The Winner takes it all verloren gegangen ist. Denn nach einer Phase, in der man sich möglicherweise als Gewinner sieht, beginnt das Spiel – ohne Vorteil für die scheinbaren Sieger – von Neuem. Diese Tatsache wird wieder bewusst, sobald Exponentialität als Bedrohung eingeschätzt werden muss.
Im Zusammenhang mit der weltweiten Vernetzung spricht man allerdings von Disruption als ökonomischer und gesellschaftlicher Chance. Man ist also der Meinung, dass diese Entwicklung trotz exponentieller Tendenzen als positiv zu bewerten ist. Die Mitte zwischen Übermaß und Mangel ist damit sicher nicht zu erreichen. Gleichzeitig zeigt uns die Erfahrung, dass bei jeder exponentiellen Entwicklung mit Sicherheit ein tipping point einzukalkulieren ist. Was nicht feststeht, ist der Zeitpunkt des Kippens – der eigentlichen Form von Disruption.
Oder man hält es mit einer Formulierung, die man dem Ökonomen John Maynard Keynes verdankt „auf lange Sicht sind wir alle tot“ – auch wenn er dies in einem andern Kontext geäußert hat, als heute oft dargestellt wird. (Keynes, 1924) Er meinte damit wohl, dass aktuelle Probleme in der Gegenwart zu lösen wären. Anders interpretiert würde diese Aussage dem ethischen Imperativ in einer technisierten Welt, den Hans Jonas formuliert hat, vehement zuwiderlaufen.
Es wurde schon erwähnt, dass es Ansätze gibt, solche Netzwerke und Strukturen zu entwerfen und Dienste auf dieser technischen Ebene ohne dominierende Hubs zu ermöglichen, die allen Anwendern Funktionalität in derzeit gewohntem Umfang bieten sollen. Diese Anwendungen würden eine Art Mittelweg zwischen Freiheit und Sicherheit darstellen können.
Um diesen Wandel in Richtung eines Wegs zu einem gesunden Gleichgewicht zu beschleunigen, bedarf es allerdings auch einer ethisch geleiteten Diskussion zum Thema ComputerScience, DataScience und informationstechnologischer Innovation.
Denn die meisten Menschen sind der irrigen Ansicht, sich in einer vernetzten Welt der Freiheit zu bewegen sobald sie digital kommunizieren, wobei der Begriff des Cyberspace ja den eindeutigen Hinweis auf implizite Steuerung (Kybernetik) gibt. Steuerung hat wohl kaum etwas mit Freiheit und freier Entscheidung zu tun, das könnten wir alle wissen.
Im Sinne des sowohl + als auch sollten wir beginnen, die Welt der Netze nicht als blinde Passagiere, sondern als aktiv wissende Teilnehmer mitzugestalten, damit wir die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit auch wirklich erreichen. In dem Bewusstsein unserer je eigenen Entscheidungsfreiheit und in der aktiven Abwehr eines Zustandes, den die Ethikkommission für automatisiertes und vernetztes Fahren in einem Verbot formuliert hat. Wir dürfen auf keinen Fall:
als das Subjekt Mensch zum bloßen Netzwerkelement degradiert werden. (BMVI, 2017)