Slavoj Žižek hat in der Neuen Zürcher Zeitung am 4.3. sinngemäß gemeint, dass die „Normalität“ nach der Covid-19 Krise eine ganz andere sein wird als „die Normalität“ davor, denn es hängt davon ab, wie wir Menschen Tatsachen akzeptieren, die uns begegnen.
Ist die Phase des Schockzustandes überwunden, stellen sich uns in einer Krise zumindest drei dringende Aufgaben. Einmal die Ursache der Krise zu bewältigen, zweitens die Auswirkungen der Krise zu managen und drittens die „Normalität“ für danach zu gestalten. Vergisst man auf einen der ersten beiden Aspekte, so kann die Ursache der Krise womöglich in gewissem Rahmen gehalten werden, die Folgeschäden drohen danach sich allerdings zur Ursache einer nächsten Krise auszuwachsen. In der derzeitigen Situation der Covid-19 Pandemie ist es gefragt, eine ausgewogenen Strategie betreffend Gesundheit / Gesundheitswesen und Arbeitswelt / Wirtschaftssystem zu finden. Die Regierungen der betroffenen Staaten werden sich daran messen lassen müssen, wie sie jeweils die ersten beiden Herausforderungen gemeistert haben.
Die dritte Herausforderung ist eine Aufgabe für die Zivilgesellschaft im Allgemeinen. Das wird eine außerordentlich komplexe Angelegenheit in der bis dato globalisiert organisierten Welt. Man vernimmt bereits Stimmen, die eine Entflechtung der globalen Abhängigkeiten fordern, was so weit geht, dass nationalistische Tendenzen wahrgenommen werden (siehe Fabian Schmids Kommentar Pflicht zum utopischen Denken) indem verlangt wird, dass Regionen autark sein sollten. Wobei Utopien in der Regel sich als nicht umsetzbar erweisen, sobald ein Versuch unternommen würde, die Ideen in die Realität umzusetzen. Betrachtet man Platons politische Philosophie (Πολιτεία Politeía „Der Staat“), so findet man sogar darin Passagen die man durchaus als totalitär bezeichnen könnte und so gibt es keine Utopie, die den Ansprüchen aller BürgerInnen genügen könnte.
Es wird wohl wieder einen Wettstreit der Ideologien geben, denn Mensch ist ein Wesen, das gelernt hat, in ausschließlich zwei Kategorien zu denken. Ja / Nein – entweder / oder. Diese Art seine Gedanken zu ordnen könnte man als digitales Denken bezeichnen und hat die Gesellschaft erfolgreich (ein paar Gedanken wie paradox Erfolg sein kann – hier nachzulesen🙂 ) gestaltet, in der wir leben. Die Phänomene der Komplexität und der Exponentialität sind essentielle Begleiter dieser Entwicklungen. Das hängt auch damit zusammen, dass Menschen sich meist an bereits erfolgreichen Beispielen orientieren. Dies begegnet uns täglich in Wirtschaft und Gesellschaft. Wie könnte man Begriffe wie Starrummel oder Main-Stream anders plausibel erklären? Der Soziologe Robert K. Merton hat dies als Matthäus Effekt in Anspielung an das Matthäus Evangelium 25,29 (Wer hat, dem wird gegeben…) bezeichnet. Wer kennt nicht auch die Erkenntnis, dass die Reichen immer reicher würden und die Armen immer ärmer.
Wir stellen fest, dass wir in einer überaus komplexen Welt leben – und unsere Intentionen die Digitalisierung und die Globalisierung voranzutreiben, haben exponentielle, somit in unserem Sprachgebrauch als erfolgreich bezeichnete, Entwicklungen zur Folge. Es liegt offensichtlich nahe, sich Anleihen bei der Erforschung komplexer Systeme zu nehmen. Die dabei gestellten Fragen betreffen von allem die Beobachtung der Entstehung von Neuem aus komplexen Situationen. Noch dazu mehren sich die Stimmen, die eine neue „Normalität“ in Betracht ziehen. Wie kann diese entstehen, ohne dass wir dystopische und damit schreckliche Bilder der Zukunft malen (die ja wieder aus dem historisch bedingten Rückblick abgeleitet werden).
Im Rahmen der Komplexitätsforschung erkennt man das Phänomen, dass mittels eines hinreichend komplexen Zusammenwirkens vieler Elemente in einer chaotischen Situation ein sogenannter Phasenübergang initiiert wird, der zur einer neuen Ordnungsstruktur führt (in Anlehnung an Stuart. A. Kauffman). Dieser Prozess bewirkt gleichsam die Entstehung von Neuem. Dieses Zusammenwirken mittels Selbstorganisation umgelegt auf Regionen, Staaten, Gesellschaften, Menschen würde bedeuten, eine derzeit allgemein verbreitete Idee des Fortschritts zu hinterfragen, nämlich den Glaubenssatz „The Winner takes it all“ – siehe einen Beitrag aus dem Jahr 2017. Die Kurzaussage von Darwins Evolutionstheorie wird mit „Survival of the Fittest“ fälschlicher Weise im Sinne des Stärkeren interpretiert, wobei „the Fittest“ eigentlich die höchste Anpassungsfähigkeit beschreiben soll.
Es wird also bei der Gestaltung unserer neuen „Normalität“ darauf ankommen, wie sehr die Fähigkeit einzelner gesellschaftlich, wirtschaftlich und regional definierter Gruppen zur Kooperation (= komplexes Zusammenwirken) und zur Anpassung (= Survival of the Fittest) an zuvor analysierte Umweltbedingungen ausgebildet ist. Und damit auch unser Denken in der Lage ist von entweder / oder auf sowohl / als auch umzuschalten. Diese Fähigkeit wird maßgeblich mitbestimmen ob wir in der Lage sind unsere Zukunft nach dieser chaotischen Pandemiesituation positv zu gestalten.